Zum 1. Januar hat das Traumazentrum „Wellenreiter“ nun seine Arbeit aufgenommen. Aktuell sind zwar erst zwei der insgesamt acht Räume in der Ahlemr Gartenstraße saniert, doch Inga Henze will nicht mehr warten. „Das Projekt muss organisch wachsen“, beschreibt sie, „deshalb werden wir die anderen Räume nach und nach in Betrieb nehmen. Parallel werde ich über meine langjährigen Netzwerke ein Team aufbauen. Ich weiß, dass viele Menschen mein Projekt unterstützen wollen, weil der Bedarf dafür auf der Hand liegt.“

Die erfahrene Traumatherapeutin hat klare Vorstellungen für das die Arbeit ihres Trauma-Notfallzentrums. Wissenschaftliche Studien belegen klar, dass bei Traumata eine multimodale Therapie die größten Erfolgsaussichten hat. Deshalb sollen Expert*innen aus verschiedenen Fachgebieten im „Wellenreiter“ tätig sein. Dazu zählen ein Psychiater, der die bei der Behandlung von Traumata wichtige medizinische Expertise einbringt, ebenso wie Ergo- und Physio- und Kunsttherapeut*innen sowie Traumatherapeut*innen mit verschiedenen Qualifikationen.

So kann nach der akuten Hilfe, einem Screening und der Diagnose ein interdisziplinäres Trauma-Board für jede Patientin und jeden Patienten eine individuelle Therapie entwickeln, die von gezielten Einzelmaßnahmen bis zur Organisation einer längeren Therapie reichen kann. Im Vordergrund steht dabei stets, die direkte Hilfe für die Patient*innen in ihrer jeweiligen Notsituation. „Natürlich werden wir auch Therapieplätze vermitteln helfen“, ergänzt Inga Henze. „Aber das erst nach der wichtigen, akuten Unterstützung. Hier soll niemand einfach weiterverwiesen werden.“

An den Vormittagen wird das Team des Wellenreiter deshalb per Telefon, Videochat, Mail oder sogar per App für Kinder, Jugendliche und Erwachsene erreichbar sein, die akute Hilfe benötigen. An den Nachmittagen sind dann die Therapieangebote und -sprechstunden geplant. Parallel und abends sollen die beiden Seminarräume des Trauma-Notfallzentrums außerdem für Selbsthilfegruppen sowie Fort- und Weiterbildungsangebote genutzt werden, die sich an Fachleute aus Medizin und Jugendarbeit, Lehrer*innen und Eltern richten. „Je mehr Menschen etwas über den sinnvollen Umgang mit traumatischen Erfahrungen wissen, desto besser“, erklärt Inga Henze, die ihr Wissen zusammen mit ihrem Lebensgefährten, dem Rechtsanwalt Markus Zeißig bereits seit drei Jahren auch in Weiterbildungskursen der Psychologen Akademie Berlin weitergibt.
Neben dem Aufbau eines breiten Netzwerks von Traumatherapeut*innen, plant sie mittelfristig, ihr Konzept auch auf andere Standorte auszuweiten, um eine bessere räumliche Abdeckung für Patient*innen anzubieten.

Aktuell kann Inga Henze ohne eigenen Kassensitz im Wellenreiter zwar regulär nur privat versicherte Patient*innen behandeln, doch die findige Psychologin will es nicht dabei belassen. Deshalb möchte sie ihr Projekt auf verschiedenen Ebenen finanzieren. Zum einen durch die geplanten Fort- und Weiterbildungsangebote, zum anderen auch durch gemeinwohlorientierte Finanzierungsformen bis hin zu Crowdfunding – und natürlich ist auch eine gezielte Förderung mit staatlichen Mitteln oder durch die Krankenkassen ein erklärtes Ziel. In jedem Fall entstehen durch das „Schnelle Hilfe für schnelle Erfolge“-Konzept des Wellenreiter deutlich geringere Kosten für das Gesundheitssystem als für die Behandlung von oft komplexen Folgestörungen, die durch eine zu spät einsetzende Hilfe entstehen können.

Aktuelle Studien belegen, dass durch die Corona-Pandemie und andere Krisenfaktoren die Zahl der von Traumafolgeerscheinungen betroffenen Menschen in Deutschland um bis zu 54 Prozent zugenommen hat. Nicht nur wegen akut erlittener Traumata – wie sie beispielsweise aus Kriegsgebieten Geflüchtete erleben – sondern auch, weil in Krisenzeiten lange zurückliegende, vielleicht sogar vergessene Traumata leicht wieder an die Oberfläche treten. „Wer in seiner Kindheit etwas Schreckliches erlebt hat“, erklärt Inga Henze. „Der kann lernen, damit zu leben. Doch sein Gehirn ist dadurch einem anhaltenden Stress ausgesetzt. Lange andauernde Belastungen können dann leicht zu viel werden.“
Der Psychologin ist bewusst, dass Traumata jeden treffen können. Von ihrer täglichen Arbeit weiß sie jedoch auch, dass es beispielsweise unter geflüchteten Menschen einen besonders großen Unterstützungsbedarf gibt, weil psychische Erkrankungen in manchen Kulturen noch immer stigmatisiert werden. „Deshalb möchte ich auch interkulturelle Therapieangebote aufbauen“, so Inga Henze, „und in besonderen Einzelfällen auch ehrenamtlich helfen.“